Wider die Illusion vom „harmonischen Leben“
Die Natur ist für die meisten so etwas wie der Inbegriff von Friede, Ruhe und Ausgleich. Man geht gern in die Natur und nutzt sie als Oase der Erholung und der Stille. Hinter beschaulicher Kulisse allerdings findet ein lebhafter und immerwährender Kampf statt. Er ist in der Tat eine unentbehrliche Grundlage des Lebens, verdient zwar keine Verherrlichung, ist aber notwendig für die Auslese des Lebensfähigen. So spiegelt die Natur eine tiefe Tragik, den schmerzlichen Zug der Zerrissenheit, des Widerspruchs vom Fressen und Gefressenwerden. Zugleich offenbart sich dem menschlichen Leben ein Bühnenhintergrund und wohl auch der Verständnisschlüssel für den so rätselhaften Vorgang, daß die Wesen, die sich am heftigsten lieben, sich auch am unerbittlichsten bekämpfen können: Mann und Frau. Zusätzlich: Auch der einzelne Mensch liegt permanent mit sich im Kampf.
Der Kampf des Menschen mit sich selbst
In ihm kämpfen entgegengesetzte Kräfte, die selten oder nie zum Ausgleich kommen: Wir wollen f rei sein, aber nicht ungeborgen, gebunden, aber nicht abhängig. Wir streben danach, uns selbst zu verwirklichen, aber das möglichst in Harmonie mit dem andern. Wir sehnen uns nach Gemeinschaft, möchten sein wie die andern, uns aber auf jeden Fall unverwechselbar von allen unterscheiden.
In uns sind also egozentrische und soziozentrische, man könnte auch sagen zentrifugale und zentripetale Kräfte wirksam, die zwar ständig nach Ausgewogenheit streben, diese aber nur selten und höchstens auf Zeit erreichen. Es kann sein, daß wir uns für andere verausgaben und dann das Empfinden haben, ausgezehrt und ausgenutzt zu sein. Oder wir nehmen alle Zeit und Kraft für uns selbst in Anspruch und halten uns von Ansprüchen anderer fern. Dann haben wir nach einiger Zeit das Gefühl, daß uns niemand braucht, wir einsam, allein und zu nichts nutze sind.
Selbstbehauptungs- und Selbsthingabetendenzen sind in jedem von uns vorhanden, aber sie decken sich nicht. Wenn diese Kräfte sich nun bei zwei Partnern messen oder in einen zeitverschobenen Rhythmus kommen - gleich zwei Zahnrädern, die nicht ineinandergreifen, sondern aufeinanderstoßen -, so sind Konflikte die zwangsläufige Folge. Denn beide Kräfte in ein dauerndes Gleichgewicht zu bringen, scheint eine schier unlösbare Lebensaufgabe zu sein. Sie hält die Partner in einem Zustand aufregenden Wechsels, bald kurz gespürter Beglückung durch Ergänzung, bald nachhaltig erlebter Spannung. Konflikt und Kampf sind aber immer wieder in das Leben und besonders auch in der Partnerbeziehung unumgänglich einprogrammiert. Wir können ihnen nicht entrinnen, sollten uns darüber aber klarwerden, wo die Gründe der Konflikte liegen, welchen Nährstoff sie finden, wie sie sich austoben und auf welche Weise sie sich aufs neue lösen lassen. Denn natürlich müssen Ruhepausen eintreten, ohne die es in der Partnerschaft nicht geht. Verlaufen diese harmonischen Zwischenabschnitte tief genug und seelisch befriedigend, dann lassen sich auch die"Kampfzeiten" verhältnismäßig schadlos überstehen.
Solche Reibungskonflikte sind nicht altersbedingt, sondern beginnen schon beim Kleinkind. In den ersten beiden Lebensjahren fühlt es sich ganz in der mütterlichen und väterlichen Fürsorge und Liebe geborgen. Wenig später erwacht der Drang nach Unabhängigkeit, es entwickelt den eigenen Willen. Das wird von den Erwachsenen oftmals nicht richtig eingeordnet, sondern als bestürzend, ja, bedrohlich erlebt. Wenn das Kind diesen Zwiespalt bemerkt, fühlt es sich ebenfalls unglücklich und zerrissen. Die Psychologie verband diese Zeit früher mit der sogenannten Trotzphase. Der innere Konflikt wird nach außen projiziert, führt zur Auflehnung gegen die elterlichen Weisungen, auch zu Gefühlen des Unvollkommenseins und zur Unzufriedenheit der eigenen Seele. Die Zustände wechseln: In einem Augenblick trotzt das Kind, im andern verhält es sich angepaßt und folgsam. Heute erlebtes ein auftrumpfendes Selbstgefühl, morgen leidet es an der gleichen Aufsässigkeit. Hier entstehen Wechselgefühle zwischen dem Selbständigkeitsdrang und der Einordnungspflicht. Diese Kindheitsphase bedeutet für alle Beteiligten oftmals eine Zerreißprobe und für die Entwicklung des Kindes eine Zeit seelischer Schwankungen. Eltern werden mit großer Aufmerksamkeit hier und da Hilfestellung geben und Korrekturen anbringen, damit das Kind nicht zu einem egoistischen erhalten, sondern zu wirklicher Selbständigkeit heranreift.
In der heutigen Zeit, in der eine Familie im Durchschnitt weniger als zwei Kinder großzieht, also ein hoher Prozentsatz an Einzelkindern heranwächst, liegt die Gefahr auf der Hand, daß sich aufdringliche, maßlose und unangepaßte Kinder entwickeln, die in der späteren partnerschaftlichen Auseinandersetzung nicht an Ausgleich und Anpassung gewöhnt sind. Wenn also zwei kampfstarke Egoisten aufeinandertreffen, dann erhält das Zusammenleben in der Ehe sehr"spezielle" Akzente. Die Kinderstube ist daher die wichtigste Partnerschule.
Die Spannung von Nähe und Distanz
In temperierter Form äußert sich das Spannungsverhältnis in der jedem Paar vertrauten heiklen und gefährlichen Balance von Nähe und Distanz, von Behauptung des Selbstwertes und Anerkennung des Fremdwertes. Der berühmte Eheberater Theodor Bovet vertrat in seinem auflagenstarken Ehebuch die Ansicht, daß jedes Ehepaar eine einzige Person sei. Er sprach von der"Eheperson", in der beide Partner sich wie die Hälften eines Apfels zu vereinigen und sozusagen auf höherer Ebene zu finden hätten. - Wenn ein Partner im anderen seine Ergänzung, sein Dual findet, so kann das natürlich ideal sein. Aus der Erfahrung meiner Beratungsarbeit befürchte ich aller dings, daß eine solche Erwartung ein unerfüllbarer Wunschtraum bleibt, der den Konfliktstoff im Grunde noch anhäuft, statt ihn abzubauen.
Heute gehen wir von einer eher gegensätzlichen Auffassung aus: Die Ehe hat die Tatsache zu verkraften, daß sie aus zwei Personen besteht, also aus zwei Menschen, die Wert auf Eigenentwicklung und Freiheit legen, die sich nicht gleichen, auch nicht unbedingt in allem angleichen wollen, die sich aber ergänzen, damit zwei Verschiedene ein Ganzes bilden und darin ihre Eigenständigkeit bewahren oder überhaupt erst finden. Eine Ehe ist darauf angelegt, Grenzen anzunähern, Kommunikation zu pflegen, Interessen zu verbinden und sich in Liebe zu vereinigen. Ehe besteht aber ebenso aus Respekt vor der anderen Persönlichkeit, ausAchtung vorder anderen Wesensart sowie aus der Wertschätzung des Schutzraumes, den der andere benötigt. Eine gut funktionierende Ehe braucht in der Tat beides: Nähe und Distanz. Ebenso wird jede Ehe Stärken und Schwächen aufweisen, Hohes und Tiefes, Beglückendes und Leidvolles. Um niedrig sein zu können, bedarf es ebenfalls der Stärke.
In unserer Gesellschaft sind Selbständigkeit und Stärke jedoch eher im Schwinden begriffen. Es zeigt sich eine deutliche Tendenz, daß Menschen die Verantwortung für ihr Leben gerne abgeben wollen an Fremde, an Institutionen - Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, Verbände -, an Massensteuerungsinstrumente der Medien, an völlig irrationale Anbieter wie Sekten, Gurus, Astrologen oder gar an die neuen parapsychologischen und okkulten Bewegungen. Angesichts dieses Aufgebotes fällt es schwer, geistige und personale Eigenständigkeit zu übernehmen. Wir hofieren die Kollektivsteuerungen und entfalten eine oftmals fanatische Sucht nach Selbstverwirklichung, was häufig mit Emanzipation verwechselt wird.
Was sind heute schon Werte? Eine Wohnung einrichten, ein Auto vor derTür, ein Haus bauen? Alles kann morgen fort sein. Wozu machen wir Karrieren, perfekte Technik, Rekorde, Hochleistungssport? Morgen ist vielleicht alles vergangen. Wozu dann? Weil es befriedigt und wohltut? Wir brauchen zwar vieles und manchmal im Überfluß. Aber Werte können das nicht sein, da alles nur kurzlebig den Augenblick überdauert. Und schon macht man sich auf, die Rekorde zu verbessern, noch perfekter, noch komfortabler, noch erfolgreicher zu werden. - Dahinter steht meiner Meinung nach eine nicht eingestandene Selbstwertschwäche. Wir spüren alle, daß wir an die Grenzen des Wachsens geraten, nicht alles machbar ist oder morgen schon nicht mehr gilt. Irgend etwas liegt aber im Menschen, das ihn nicht ruhen läßt. Er scheint nur zufrieden zu sein, wenn er unzufrieden ist und immer weiter nach Erfüllung strebt, obwohl er nur in Konflikte gerät. Wir kommen aus der Spannung unseres Lebens nicht heraus. Selbst unsere Anstrengungen, unser Hoffen und Wünschen programmieren Konflikte.
Nach christlichem Glauben leite sich der Selbstwert eines Menschen aus nichts anderem ab als aus der Tatsache, von Gott geliebt zu sein. Das allein macht ihn frei gegenüber allen übermäßigen Leistungsnachweisen und den damit verbundenen Vergrößerungsphantasien und Expansionsbestrebungen. Es ist deutlich zu beobachten, daß überall dort, wo in einer Gesellschaft massiver Glaubensverlust auftritt, der Nachweiszwang des selbst erworbenen Eigenwertes verstärkt wird. Leider nutzt es wenig, ein Zurück zu verordnen im Sinne von: "Glaubt mal wieder schön!" Aber man muß über diese Zusammenhänge nachdenken und Konsequenzen ziehen z. B. im Blick auf die eheliche Partnerschaft, die nicht leistungsorientiert sein darf, sondern auf Anerkennung des"Fremdwertes" - d. h. des Partners - ausgerichtet zu sein hat.
Die Therapie von Minderwertigkeitsgefühlen, Unsicherheiten und Ängsten ist schwierig, weil man einem Menschen nicht einreden kann: Sei doch einfach anders! Es ist ein echtes Dilemma, in das wir geraten, wenn wir nur die"Harmonie" aufbauen und das "Ich" großziehen. Trifft ein Ichschwacher in einer späteren Ehe auf einen Partner, von dem er Ichstärke erwartet, kann das eine Zeitlang gutgehen, weil ein Kraftstrom hinüberwechselt. Der Ichschwache hat dann das Gefühl, ein volleres Leben zu führen und von der Stärke des anderen getragen zu werden. Aber wehe, wenn sich dieser anderen Dingen, Interessen, vielleicht auch Menschen zuwendet und sie in den Mittelpunkt stellt, dann entsteht Angst im Partner: Er spürt die Lücke, er entdeckt sein Defizit und schämt sich seines Selbstwertmangels.
Der Partner kann uns mit seiner Nähe eine Weile faszinieren, aber nicht ausfüllen, er kann uns in Atem halten, aber nicht die Schwächen vergessen lassen, er kann uns auch ein Gefühl von Sicherheit geben, aber keine letzte Geborgenheit schenken. Strukturell und in der Tiefe vermag er unseren Selbstwertmangel nicht zu beheben, bestenfalls über die Schwächen hinwegzutrösten.
Wenn Liebe und Liebesbindung nur in absoluter Nähe gedeihen könnten, nur in totaler Abhängigkeit, dann wären sie unendlich verletzbar und manipulierbar. Jede Regung, jeder Schritt des andern müßten sofort schmerzliche Reaktionen und Gegenregungen auslösen. Die Ehepartner lebten seelisch wie siamesische Zwillinge, abhängig vom Gleichschritt des anderen. Geschieht das einmal nicht, folgen Blicke, Stirnrunzeln, Kritik, Nörgeln, Ausfälligwerden, Schreie, Tränen oder Schweigen. Das sind "Tretminen" auf dem Weg der Ehe, die die Partnerschaft ernstlich gefährden.
Ein erfolgreicher Weg wird also vom eigenen Ich fortführen und einen neuen Weg suchen, der unabhängig ist vom individuellen Fühlen und Begehren. Dieser Wert muß höher veranschlagt werden, als es die Vernunft oder Psyche des Menschen hergibt. Eine Stabilität wird gebraucht, an die man sich klammern kann und die im Krisenfall nicht losläßt. Damit werden wir auf die Schöpfung zurückgeführt:"Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie, einen Mann und eine Frau" (l. Mose 1). Der den Menschen schuf und die Partnerschaft, der wird auch den Weg kennen, der aus dem Dilemma in die Harmonie zurückzuführen vermag. So wird Gott zum Fundament einer Ehe und zum Vermittler in Krisenzeiten. Er hat zusammengeführt und wird auch zusammenhalten. Bovet hat im Blick auf Spannungen und Differenzen formuliert: "Wir können die ganze Ehepathologie mit der Vorstellung überhöhen, daß ganz allgemein die Ehe, jede Ehe, wesentlich ein großes Drama ist. Indem Mann und Frau in der Ehe eine neue Person werden, muß ihr altes Ich sterben, und das geht nicht ohne Schmerzen. Sie müssen,Vater und Mutter', d. h. ihre bisherige Geborgenheit, das, was sie bisher liebten und verehrten, aufzugeben bereit sein. Zudem entdecken sie unweigerlich, daß ihr neuer Partner anders ist, als sie sich ihn vorgestellt hatten, ja anders, als er es selbst wußte. Wie Kolumbus f inden sie nicht das Land, das sie erwartet hatten, aber sie entdecken eine völlig andere Welt. Das Lebensideal, das man sich vor der Ehe gesteckt hatte, muß weitgehend verändert, der neuen Eheperson angepaßt werden, oder aber man lebt weiter als verheirateter Junggeselle' und verpaßt die Ehe. Das große Drama der Ehe besteht darin, daß man die ganz neue Situation annimmt und bejaht, daß man durch alle Schmerzen und Anfechtungen hindurchgeht und die einmalige Partnerschaft mit der Hilfe Christi verwirklicht."
Artikel aus Sexualethik und Seelsorge des Weißen Kreuzes